Samstag, 22. April 2017

Algorithmisch gängeln

Post von Susan Bonaths Artikel  auf facebook

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2 Kommentare:

  1. Algorithmisch gängeln

    Bürokratieabbau durch Digitalisierung? Unions- und SPD-Politiker fordern die nächste Hartz-IV-Reform

    Von Susan Bonath

    Dicke Anträge mit vielen Extrafragebögen, Bescheide, die bis zu 200 Seiten umfassen können: Hartz IV ist ein undurchschaubares Regelwerk. Daran hat sich mit den vermeintlichen »Rechtsvereinfachungen«, die im vergangenen August in Kraft getreten sind, nichts geändert. Tatsächlich hat das neue Gesetz die Straf- und Gängelpraxis teilweise noch verschärft. Dass Hartz IV nicht einfacher, sondern komplizierter geworden ist, haben auch die Reformbefürworter der großen Koalition und der ehemalige Vize­chef der Bundesagentur für Arbeit, Heinrich Alt, bemerkt. Sie beklagen ihr eigenes Konstrukt. Ihre Verbesserungsvorschläge dürften Betroffenen allerdings wenig helfen.

    Der CDU-Abgeordnete Kai Whittaker, seit 2013 im Bundestag und für Sozialpolitik zuständig, stellte sich am Dienstag gegenüber der Süddeutschen Zeitung (Onlineausgabe) hinter Alt. Der hatte im Februar in einem eigenen Gutachten dafür plädiert, das Hartz-IV-System »stark zu vereinfachen, zu entbürokratisieren und durchgängig leistungsanreizend auszugestalten«. »Langzeitarbeitslose, Alleinerziehende und Ungelernte« will Alt zum Beispiel vorrangig in »zielgenaue Maßnahmen« verfrachten. Die wenigen Hilfen, die sich derzeit noch zum Teil an der Realität orientieren – etwa Miete und Heizkosten –, würde der frühere Spitzenbeamte gerne pauschalisieren. Diätenbezieher Whittaker sieht das ähnlich. Für ihn sei die Berechnung der Mindestsicherung »lediglich ein mathematisches Regelwerk, ein Algorithmus, nach dem sich exakt benennen lässt, wieviel Geld einem Hartz-IV-Empfänger zusteht«. »Geschieht das automatisch, könnte ein Großteil der 20.000 Jobcenter-Mitarbeiter von dieser Pflicht befreit werden.«

    Darum, meinte Whittaker, müssten die Ämter »konsequent digitalisiert« werden. Mehr Beschäftigte der Leistungsabteilung hätten so mehr Zeit, Langzeiterwerbslose »zu betreuen«. Derzeit, so der Politiker, müssten etwa die Hälfte der Mitarbeiter Leistungen berechnen. Zudem forderte Whittaker ein »Online-Jobcenter«. Bisher kommuniziere in Deutschland nur jeder zweite Bürger mit den Behörden über das Internet, klagte der Jungpolitiker. In Österreich, Estland oder der Schweiz sei dies anders. In der Bundesrepublik fehle eine »harmonisierte Dateninfrastruktur, eine nützliche elektronische Identität, eine verpflichtende elektronische Akte und ein besserer Datenaustausch zwischen den Behörden«, betonte er.

    Allerdings mangelt es Whittaker selbst an Durchblick. Im April 2016, als das Parlament die Hartz-IV-Reform debattierte, lobte er letztere nicht nur mit den Worten, die Bundesregierung baue damit »Stufen in die Treppe zum Arbeitsmarkt ein«. Er beharrte auch darauf, dass die Sanktionspraxis kaum angewendet werde. Nur einem Prozent der Betroffenen kürzten Jobcenter jährlich die Existenzsicherung, behauptete der Mathematikfreund. Der Opposition warf er vor, Probleme »beim Betrachten der Wirklichkeit« zu haben. Die Zahlen der BA waren ihm dabei aber nicht geläufig. Danach verhängten die Jobcenter 2015 wie nun auch 2016 knapp eine Million Sanktionen gegen rund 416.000 Klienten. Sie bestraften also pro Jahr tatsächlich etwa ein Zehntel der erwerbsfähigen Leistungsbezieher.

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  2. Alt und Whittaker stoßen beim neuen BA-Chef Detlef Scheele (SPD) auf offene Ohren. Nach der Bundestagswahl bedürfe es einer weiteren Reform, mahnte dieser am Dienstag. Mit der Digitalisierung habe seine Behörde schon begonnen. »In den Jobcentern wird die elektronische Akte gerade schrittweise eingeführt«, erklärte er. Außerdem entwickele die BA ein Verfahren, mit dem Hartz-IV-Anträge online gestellt werden können. In den Arbeitsagenturen sei dies schon möglich. Bei Hartz IV stoße man aber an engere Grenzen, räumte Scheele ein. Das Gesetz mit ständigen Änderungen und neuen Gerichtsurteilen sei zu komplex, um alles Computern überlassen zu können.

    Die Hamburger Linke-Politikerin Inge Hannemann sieht das ähnlich. »Es geht schließlich um existentielle Einzelfälle«, sagte sie am Mittwoch auf jW-Nachfrage. Sie befürchtet, dass durch Pauschalen die Regelsätze gedrückt werden und besondere Lagen, etwa bei unregelmäßigen Einkünften, nicht berücksichtigt werden könnten. Eines der größten Probleme sei jedoch die mangelnde Ausbildung der Mitarbeiter, so Hannemann. »Solange sie selbst kaum Ahnung vom Gesetz haben, nützt eine solche Vereinfachung gar nichts.«
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    jungewelt.de

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